Lernphase
Erarbeiten
Die Phase des Erarbeitens ist die Mitte einer Veranstaltung. Sie steht so sehr im Zentrum und berührt so unmittelbar den Lernprozess selbst, dass darüber die anderen Phasen gelegentlich vernachlässigt bis vergessen werden. Sehr zu Unrecht. Nachdem die TN im Einsteigen dem Inhalt, sich untereinander und dem SL näher gekommen sind (Vertrautmachen) und alle sich auf einen gemeinsamen Plan geeinigt haben (Vereinbaren), ist das Erarbeiten durch ein neues und einziges Grundprinzip gekennzeichnet: sich mit den anderen Personen über die anstehende Sache auseinanderzusetzen. Hat das Einsteigen die Aufgabe, die TN für den Inhalt zu erschließen, so geht es in der Phase des Erarbeitens darum, den Inhalt für die TN zu erschließen. Gemeinsames Lernen ist ein Erarbeiten, auch wenn, wie in einer Vortragsveranstaltung, nicht miteinander gesprochen und nicht an der Sache gehandelt wird. Hier geschieht das Erarbeiten innerlich und gedanklich. Lernen ist aber immer aktiv; es findet nicht einfach nur statt.
1. Momente
In der Phase des Erarbeitens wird ein neues Wissen, Können, eine neue Haltung zu einem Sachverhalt eingeführt, ergänzt und/oder korrigiert. Die Auseinandersetzung mit dem „Neuen“ und mit dem „Alten“ besteht aus einem Erarbeiten und einem Bearbeiten. Das Erarbeiten kann und wird nicht ohne Vermittlung geschehen, das selbsttätige Bearbeiten nicht ohne Führung. So entscheidend Aneignung und Selbsttätigkeit seitens der TN für die gesamte Phase des Erarbeitens auch sind, so bleiben Vermittlung und Führung seitens des SL doch unerlässlich. Die Devise lautet: So viel Aneignung und Selbsttätigkeit wie möglich, so viel Vermittlung und Führung wie nötig.
Sich mit „Altem“ auseinandersetzen
- „Altes“ erarbeiten: Geben Sie zunächst Raum und Zeit dafür, dass sich die TN ihrer eigenen Erfahrungen, Erlebnisse und Fantasien, ihres eigenen Wissens und Könnens, ihrer eigenen Einstellungen und Haltungen zur anstehenden Sache bewusst werden (erkennen) und sie zur Sprache bringen (darstellen). Sie können dazu auch entsprechende Äußerungen anderer Menschen anführen, insofern ihre Ansichten mit denen der TN vergleichbar sind. Ist die Gruppe relativ homogen zusammengesetzt, werden sich die Vorerfahrungen und Vorkenntnisse quantitativ und qualitativ ähneln. Im anderen Falle kommt zur Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen noch die Konfrontation mit den Erfahrungen anderer TN hinzu. Die erste Bereicherung oder auch Verfremdung findet statt.
Besonders geeignete Aktionsformen: Bildbetrachtung, Fragebogen, Geleitete Fantasie, Kartenabfrage, Test
- „Altes“ bearbeiten, „Neues“ durch die TN (von innen) erarbeiten: Stellen Sie den TN eine auf den Veranstaltungsinhalt bezogene Aufgabe. So können diese an und mit ihren reaktivierten alten Erfahrungen und Vorstellungen arbeiten und sich untereinander bereichern. Lassen Sie Lösungswege erarbeiten und begründen, Antworten auf Fragen suchen, Handlungsmöglichkeiten entwerfen. In der Kooperation wird plötzlich manches denk- und machbar, was allein nicht möglich war. Es treten Synergieeffekte auf („Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“). Die TN vernetzen „Altes“ mit „Neuem“. Sie als SL können ggf. inhaltliche oder methodische Hilfestellungen leisten, sollten die Gruppe bzw. die Kleingruppen ansonsten aber selbsttätig arbeiten lassen. Damit erfolgt die erste Vertiefung der Erarbeitungsphase.Besonders geeignete Aktionsformen: Bild malen, Collage, Rundgespräch, Teilnehmergeschichte, Wachsende Gruppe
Sich mit „Neuem“ auseinandersetzen
- „Neues“ durch den SL (von außen) erarbeiten: Vermitteln Sie in einem überschaubaren und anschaulichen Input mit kleinen und kontrollierten Schritten neues Wissen, neues Können oder neue Haltungen. Das kann auch durch einen kundigen TN erfolgen. In diesem „Neuen“ kristallisiert sich die vielfältige unmittelbare und mittelbare Erfahrung anderer Menschen, ob von Wissenschaftlern, Professionellen oder Laien, ob aus deutschen oder anderen Landen, ob aus Vergangenheit oder Gegenwart. Sie haben auch die Möglichkeit, die TN das „Neue“ (eine Lösung, eine Antwort, eine Handlungsmöglichkeit u.a.) mithilfe von Texten o.a. Materialien ermitteln zu lassen. Oder konfrontieren Sie die TN mit der Realität außerhalb des Seminarraums. Es kommt zur zweiten Bereicherung oder auch Verfremdung in der Phase des Erarbeitens. Unter „Bereicherung“ verstehen wir, wenn brennende Fragen aufgegriffen und bestätigt werden; eine „Verfremdung“, wenn „Altes“ infrage gestellt, verunsichert und damit sozusagen „aufgeweicht“ wird. So lustvoll das eine, so schmerzvoll kann das andere sein. Übrigens: Verwechseln Sie diese Teilphase „Neues erarbeiten“ nicht mit der Großphase „Einsteigen“. Es geht nicht um den Einstieg in den Kurs insgesamt, sondern um den Einstieg ins Thema und dessen Erarbeitung.
Besonders geeignete Aktionsformen: Demonstration, Erkundung, Lehrgespräch, Leittext, Vortrag
- „Neues“ bearbeiten: Ermöglichen Sie eine Situation, in der die TN ihre eigenen Erfahrungen, die der anderen TN und die dritter Menschen produktiv aufarbeiten und vielfältige Verknüpfungen zwischen diesen Gesichtspunkten herstellen können. Lassen Sie „Neues“ anhand von Aufgaben, Fragen und Anforderungen durchführen, erproben und ausgestalten. Zur Not können Sie diese Verknüpfung auch selbst vorstellen bzw. vorexerzieren. Mit diesem letzten Schritt der Phase des Erarbeitens hat sich der Kreis geschlossen: Das „Neue“ ist für das „Alte“ erschlossen.
Besonders geeignete Aktionsformen: Diskussion, Expertenbefragung, Methode 66, Netzwerk, Vier Ecken
2. Verläufe
Jedes der vorgestellten Momente des Erarbeitens kann (wie auch die Elemente des Integrierens) von unterschiedlichen methodischen Verläufen geprägt sein und deshalb unterschiedlichen methodischen Gängen („Lern-“ bzw. „Lehr-Gang“) folgen. Diese Verlaufsformen bzw. Gangarten sind nicht mit den Aktionsformen („Lern- bzw. Lehr-Form“) identisch, auch wenn beide von Fall zu Fall bestimmte Verbindungen eingehen.
Der Gang der Aufmerksamkeit
- Von Aussagen zu Aussagen seitwärts: Egal ob in darbietenden, in interaktiven oder in erarbeitenden Aktionsformen, überall kann das Lehren im Darbieten und das Lernen darin bestehen, bereits fertige Gedanken nachzudenken und schon feststehende Handlungen nachzumachen. Selbst das Bearbeiten einer Aufgabe in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit (erarbeitende Aktionsformen) kann als Nachvollziehen von Ergebnissen vonstattengehen.
- Von Fragen zu Antworten vorwärts: Jeder Vortrag, jedes Plenumsgespräch und jede Gruppenarbeit kann die Zuhörer, „Mitredner“ bzw. „Selbstmacher“ eine Antwort auf eine Frage, eine Lösung für ein Problem finden lassen. Es entwickelt sich etwas im Vor- und Miteinander. Auch ein Vortrag kann seinen „Stoff“ so darbieten, dass er sich Fragen stellt, verschiedene Antworten sucht und die Zuhörer so unmittelbar in seine Denkbewegung hineinzieht.
- Von Aussagen zu Fragen rückwärts: Dieser Gang der Aufmerksamkeit ist am wenigsten bekannt. Die Kunst, eine Aussage zu einer Tatsache als Antwort auf viele gestellte und ungestellte Fragen zu begreifen, hat ein kleines Mädchen in dem Roman „Hallo Mister Gott, hier spricht Anna“ zum Vergnügen des Lesers bis zum Exzess vorexerziert. Die Dramaturgie des Kriminalromans, -stücks oder -films lebt von dieser „Verfolgung“ in die Vergangenheit.
Der Gang der Gedanken
- vom Ganzen zu Teilen: zergliedern, ausgliedern (Analyse),
- von Teilen zum Ganzen: zusammenfügen, Beziehungen erfassen (Synthese),
- von einem zum anderen und zurück: vergleichen,
- von einem zum anderen zum Nächsten: ordnen (Systematik),
- vom Abstrakten zum Konkreten: auf einen Fall anwenden (Deduktion),
- vom Konkreten zum Abstrakten: verallgemeinern (Induktion),
- von der Gegenwart in die Zukunft: vorausschauen (Prognose, Utopie),
- von der Gegenwart in die Vergangenheit: zurückschauen (Historie),
- von Ähnlichem zu Ähnlichem: von Beispiel zu Beispiel hüpfen,
- vom Kleinen zum Großen, vom Nahen zum Fernen: konzentrische Erweiterung.
Der Gang der Zeit
- schnell bis hektisch oder geruhsam bis langsam,
- beschleunigend oder verzögernd,
- groß- oder kleinschrittig,
- stetig oder sprunghaft,
- ohne oder mit Unterbrechungen.
3. Didaktisch-methodische Hinweise
Weil die Phase des Erarbeitens die Kernzeit eines jeglichen Lern- und Lehrprozesses ist, lässt sie eine Vielzahl, fast eine „Unzahl“ von methodischen Varianten in jeder Hinsicht (Aktions- und Sozialformen, Verlaufsformen) zu. Sie können Elemente auslassen, Schwerpunkte setzen und eine andere Reihenfolge wählen. In der gegebenen Kürze ist es unmöglich, auf möglichst viele konkrete Ausgestaltungen einzugehen. Dazu sei auf die Infokarte verwiesen. Wir haben zudem an dieser Stelle im Unterschied zu Infokarten der anderen Lernphasen auf Beispiele weitgehend verzichtet. Denn: Mit den wenigen Beispielen auf dieser Infokarte würden wir in der Gefahr stehen, die Fülle an Möglichkeiten gedanklich einzuschränken und vielleicht für ganz andere Situationen falsche Assoziationen zu wecken.
Literaturhinweise: Grell/Grell 2010; Ebner 1995; Kaiser 1986; Meyer 2007; Papenkort 2002; Prange 1986
Dr. Balkes rät: „Lassen Sie sich nicht weismachen, dass in Kursen und Seminaren immer alles Schritt für Schritt aufeinander folgen und aufeinander aufbauen muss. Das Leben wie das Lernen ist zugleich einfacher wie komplexer: Es eilt voraus, überspringt, geht zurück, verzögert, beschleunigt. Es ähnelt mehr dem Hüpfen der Grille als dem Kriechen des Wurms. Also lassen Sie hüpfen und hüpfen Sie mit!“
Autor: Ulrich Papenkort