Lernphase
Einsteigen
Aller Anfang ist schwer. Oder besser: Gut begonnen ist schon halb gewonnen. Was für das Anfangen allgemein gilt, ist auch für das Einsteigen in einen gemeinsamen Lern- und Lehrprozess von Bedeutung, im Grunde selbst für eine Vortragsveranstaltung. In dieser Phase lernen die TN den Inhalt, die anderen TN und die Person des SL kennen. Meist entscheidet, zumindest tendenziell, der erste Eindruck. Fehler und Versäumnisse zu Beginn sind später nur schwer wieder wettzumachen. Für manche TN ist die organisierte Erwachsenenbildung mit ihren oft nur unausgesprochenen Regeln ungewohnt. Zusätzlich werden sie mit einer neuen sozialen Situation und deren Regeln konfrontiert.
Die Phase des Einsteigens ist darum zunächst durch das Grundprinzip gekennzeichnet: sich mit dem Inhalt, den TN (und ihren Erwartungen/Interessen), mit dem SL (und seiner Planung) und mit den Regeln vertraut zu machen. In einem zweiten Schritt wird die gemeinsame Basis für die weitere Veranstaltung geschaffen. Der Plan des SL wird (ggf. nach Ergänzungen und Korrekturen) bestätigt, oder es wird überhaupt ein erster bzw. ein ganz anderer Plan erstellt. Hier ist das Grundprinzip: vereinbaren.
1. Momente
Das Einsteigen kann aus einer ganzen Reihe von Momenten bestehen. Nicht immer ist es notwendig, alle gleichermaßen zu beachten. Auslassungen oder Kürzungen sind, je nach Situation und Veranstaltungsform, meist unumgänglich.
Blockveranstaltungen (z.B. Wochenende) brauchen (fast) alle, Intervallveranstaltungen (z.B. Kurs) die meisten und Einzelveranstaltungen (z.B. Vortrag) nur wenige dieser Momente. Der Einstieg kann je nachdem mehr den Inhalt, die Gruppe oder die Person des SL in den Mittelpunkt stellen. Selbstverständlich spielen trotz einer solchen Schwerpunktsetzung immer alle drei Aspekte ihre Rolle. Die Reihenfolge, in der die Elemente im Folgenden angeordnet sind, ist nicht zwingend. Varianten sind möglich.
Vertrautmachen
- Ankunft des SL: Reisen Sie frühzeitig an. Lassen Sie sich bis zur Ankunft der TN genügend Zeit, den Raum zu erkunden und „einzurichten“ (Bestuhlung, Medien, Licht, Atmosphäre, Belüftung), sich auf die Veranstaltung einzustimmen (positive Erwartung, die ansteckend wirkt), um auf unvorhergesehene Ereignisse reagieren zu können (s. dazu die Organisations-Checklisten Kap. 7, Organisation).
- Ankunft der TN: Nehmen Sie die nacheinander ankommenden TN einzeln in Empfang, evtl. schon im Vorraum. Begrüßen Sie sie persönlich. Weitere Möglichkeiten: Sie stellen sich mit Namen (und als SL) vor, Sie weisen die TN auf freie Plätze, auf Getränke hin, Sie erkundigen sich nach der Befindlichkeit, nach der Anreise, Sie lassen sich auf einen Small Talk ein.
- Begrüßung der TN („Herzlich willkommen!“): Beginnen Sie relativ pünktlich, auch wenn die Gruppe noch nicht ganz komplett ist. Jetzt wird‘s offiziell. Scheuen Sie sich nicht, Körperhaltung, Blickkontakt und Stimme bewusst und damit immer auch ein wenig “künstlich“ einzusetzen. Die Begrüßung ist immerhin ein „Auftritt“ und innerhalb des Auftritts der „Auftakt“ (Gesprächsführung).
- Vorstellung des SL („Mein Name ist …, ich bin/komme aus/von … Ich freue mich, hier zu sein!“): Benennen Sie anhand Ihrer Ausbildung und/oder Ihrer Tätigkeit (indirekt) Ihre Kompetenz für den anstehenden Inhalt. Nicht „großspurig“, aber auch ohne falsche Scham! Mindestens ebenso wichtig ist es, Ihr Interesse, vielleicht gar Ihre Leidenschaft für die Sache zu zeigen, am besten durch die Art, wie Sie über die Sache sprechen, nämlich engagiert. Erzählen Sie vielleicht von Ihrer ersten Begegnung mit dem Thema und der nachfolgenden Liebes- und Leidensgeschichte.
- Vorstellung von Regeln (z.B. „Sie dürfen mich unterbrechen“, „Ich erwarte Ihre Mitarbeit“): Oft ist es sinnvoll, besonders bei bildungsungewohnten TN darauf hinzuweisen, wie die Veranstaltung „in der Regel“ abläuft. Vielleicht ist es auch notwendig, einen etwas anderen „Lernvertrag“ vorzuschlagen, der zeigt, dass Bildung aktiv und persönlich ist: Statt „Sie als SL vermitteln mir Wissen, ich als TN kaufe es Ihnen ab“ z.B. „Sie ermöglichen mir die Aneignung des Wissens, ich eigne es mir dann selbst an“.
- Vorstellung des Inhalts („Es geht um …“): TN kommen zu einem Kurs, Vortrag oder Seminar, weil sie an einem Inhalt interessiert sind oder sein sollen. Lenken, ja locken Sie darum ihren Blick kurz, prägnant und anschaulich auf die Sache, um die es in der Veranstaltung geht (z.B. mit einem Zitat, einem Cartoon oder anhand eines aktuellen Ereignisses). Stellen Sie zentrale Aspekte des Inhalts (z.B. Gegensätzlichkeiten/Unvereinbarkeiten) vor oder fragen Sie danach. Dabei gilt es, Interesse und Aufmerksamkeit, eine Fragehaltung und Betroffenheit der TN zu aktivieren oder zu wecken. Stellen Sie Bezüge zur Lebenswelt der TN her und unterstreichen Sie die Bedeutung des Themas. Wenn sich die TN fälschlich schon sehr nahe am Thema wähnen, können ihre vertrauten Vorstellungen evtl. verfremdet werden bis hin zur Provokation. Bedenken Sie, es geht noch nicht um den Inhalt selbst, sondern um den ersten Kontakt mit ihm. Für die wirkliche Aneignung des „Stoffs“ ist noch zu wenig psychische Energie da, da die TN noch mit der sozialen Situation des Anfangens beschäftigt sind. Zu Beginn gegebene Informationen werden also nicht oder nur unzureichend aufgenommen.
Besonders geeignete Aktionsformen: Demonstration, Erzählen, Mind-Mapping, Vormachen, Vorspielen
- Vorstellung der TN („Bitte stellen Sie sich vor“): Nutzen Sie die Möglichkeit, sich untereinander kennenzulernen. Lassen Sie die TN sich selbst oder einander (nicht nur mit Worten) vorstellen. Vielleicht erleichtern Sie die Vorstellung durch Stichworte (z.B. Name, Ausbildung, Tätigkeit, Ort, Institution, Position usw.; Befindlichkeit usw.) oder mit angefangenen Sätzen („Ich fühle mich im Moment …“). In jedem Fall empfiehlt es sich, das Thema in der Vorstellungsrunde mit anzusprechen. Setzen Sie Kennenlernspiele nur mit großer Vorsicht ein und achten Sie in diesem Fall auf den gegebenen Rahmen und die beteiligten Personen.
Besonders geeignete Aktionsformen: Kennenlern-Matrix, Partnerinterview, Steckbrief, Stimmungsbarometer, Vorstellungsrunden
- Vorstellung der Erwartungen und Interessen (z.B. „Was reizt Sie am Thema?“): Beides kann und sollte in vielen Fällen Bestandteil der Vorstellung der TN sein, damit die soziale und die inhaltliche Seite der Veranstaltung von vornherein miteinander verbunden werden. Es ist gerade bei sehr offen geplanten Veranstaltungen sinnvoll, der Ermittlung von Erwartungen und Interessen ein eigenes Schwergewicht zu geben. Dann können die Erwartungen um Befürchtungen ergänzt und sowohl auf das Was als auch auf das Wie des Lernens und Lehrens bezogen werden. Fragen Sie bei relativ geschlossener Planung nur nach Erwartungen und Interessen, wenn Sie zur Variation Ihrer Planung bereit und in der Lage sind. Sorgen Sie dafür, dass die Äußerungen schriftlich fixiert werden.
Besonders geeignete Aktionsformen: Erwartungsinventar, Graffiti, Kartenabfrage, Stimmungsbarometer, Zurufabfrage
- Vorstellung der Planung („Bis … werden wir …, ab … Um … ist Schluss“): Informieren Sie die TN über den inhaltlichen, methodischen wie zeitlichen Verlauf der Veranstaltung, am besten auf einem Flipchart o.Ä. visualisiert. Begründen Sie evtl. die Auswahl an Inhalten und Methoden. Der orientierende Überblick kann und darf aus dramaturgischen Gründen (mit Einverständnis der TN) allerdings auch eingeschränkt werden oder ganz entfallen. Dann erübrigt sich die Ermittlung von Erwartungen und Interessen und die Vereinbarung eines gemeinsamen Plans.
Vereinbaren
- Diskussion der Erwartungen und Interessen: Betreiben Sie zunächst Enttäuschungsprophylaxe. Lassen Sie keinen Zweifel daran, welche Erwartungen unter den gegebenen Bedingungen trotz aller Variations- und Innovationsfreude auf keinen Fall erfüllt werden können. Versuchen Sie dann, gemeinsam mit den TN einen Abgleich der verbleibenden unterschiedlichen Erwartungen und Interessen untereinander und mit der mehr oder minder offenen Planung herzustellen. Achten Sie darauf, dass die Diskussion zeitlich begrenzt bleibt. Ansonsten wird Unmut aufkommen („Man möge doch endlich zur Sache kommen"). Scheuen Sie sich nicht davor, angesichts sehr unterschiedlicher Erwartungen und Interessen Entscheidungen zu treffen. Die TN werden es Ihnen danken, selbst die „Enttäuschten“. Letztere umso mehr, wenn Sie ihnen in Zwischenzeiten der Veranstaltung Raum für ihre Anliegen geben oder auf Möglichkeiten außerhalb der Veranstaltung verweisen.
Besonders geeignete Aktionsformen: Impulsmethode, Methode 66, Rundgespräch, Themenzentrierte Interaktion, Vier Ecken
- Festlegung des Veranstaltungsablaufs: Die gemeinsame Vereinbarung des Verlaufs der nächsten Stunden oder Tage kann die „Absegnung“ der ursprünglichen, korrigierten oder mit den TN entworfenen Planung bedeuten.
Besonders geeignete Aktionsformen: Kartenabfrage, Punktabfrage, Zurufabfrage
- Einladung zur Veranstaltung („Ich wünsche uns eine schöne, kurzweilige etc. gemeinsame Zeit“): Versäumen Sie es nicht, die Phase des Einsteigens mit einem sowohl abrundenden als auch überleitenden Wort zu beschließen. Sprechen Sie Ihre Hoffnung auf ein Gelingen der Veranstaltung aus. Denn viel muss zusammenkommen, damit ein Kurs gut wird, und nur ein Teil davon ist in Ihrer Hand.
2. Didaktisch-methodische Hinweise
Seien Sie stark präsent. Machen Sie Strukturvorgaben und -angebote. Informieren Sie (ohne Scheu vor Wiederholungen) über alle relevanten Sachverhalte. Das „Dass" ist dabei wichtiger als das „Was". Es zeigt Ihre Verantwortlichkeit in einer offenen, unübersichtlichen Situation. Bereiten Sie den Einstieg darum gründlich vor, evtl. formulieren Sie ihn sogar schriftlich (s. als Beispiel dazu unseren Seminarentwurf Kap. 6, Methoden und Medien). Sie sind in der Einstiegsphase der einzige Fixpunkt. Ihnen sitzt (noch) keine Gruppe gegenüber, sondern eine Ansammlung von Individuen, die aufgrund der Situation für gewöhnlich unsicher sind, abwarten und Orientierung brauchen. Es hat keinen Sinn, die schwierige Gruppendynamik der Anfangssituation mit „leichten“ Kennenlernspielen oder „spielerischer Leichtigkeit“ des Auftretens überspielen zu wollen. Nehmen Sie die zwiespältige Befindlichkeit der TN – auch Ihre eigenen Unsicherheiten und Ängste – ernst. Die TN schwanken zwischen
- „Distanz wahren und Nähe suchen,
- anonym bleiben wollen und sich zeigen,
- Anleitung brauchen und gleichzeitig Abhängigkeit vermeiden wollen,
- Neues erproben und auf Bekanntes nicht verzichten können,
- einzigartig und doch nicht (zu sehr) andersartig sein wollen“ (Langmaack/Braune-Krickau 2000).
Der Orientierungsbedarf nimmt dabei von Einzel- über Intervall- bis hin zu Blockveranstaltungen und von inhalts- bis hin zu teilnehmerorientierten Veranstaltungen zu.
Literaturhinweise: Geißler 2005a, 2010a; Grell/Grell 2010; Kaiser 1986; Meyer 2007; Papenkort 2002
Autor: Ulrich Papenkort