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Störungen

1. Beispiele

Womöglich haben Sie ähnliche Situationen bereits selbst erlebt und mehr oder weniger erfolgreich gemeistert. Sicher gibt es für die Lösung von Konflikten in Veranstaltungen keine „Patentrezepte“, allein schon wegen der Vielfalt der Erscheinungsformen, Ursachen und situativen Umstände. Dennoch lassen sich einige Hinweise geben, wie man mit schwierigen Situationen umgehen kann.

2. Grundhaltung

Was stört?
Es zeigt sich oft eindringlich, dass wir jeweils sehr unterschiedlich definieren, was eine Störung ist, wo das Störende beginnt. Was der eine noch problemlos toleriert, treibt den anderen womöglich schon „auf die Palme“. Genau genommen stört nicht eine bestimmte Verhaltensweise, sondern die Reaktionen, die sie bei uns auslösen: unsere eigenen Gefühle und Gedanken. Störend ist nicht eigentlich der Zeitung lesende TN, sondern unsere Sorge, dadurch vor den anderen TN an Ansehen zu verlieren. In der Angst, als Dozent nicht respektiert zu werden, neigen wir oft dazu, TN-Verhalten immer als “Worst Case“ zu interpretieren. Dabei ist der müde TN vielleicht gar nicht gelangweilt vom Unterricht, sondern hat eine lange Anfahrt hinter sich.
Was empfinden Sie persönlich als Störung? Was nervt Sie besonders? Welche Gedanken und Gefühle kommen Ihnen in diesen Situationen?
Vielleicht stellen Sie fest, dass Sie in manchen Fällen Ihre Einstellung zu der einzelnen Störung ändern können. Wir schlagen folgende Strategien vor:
 
Für normal halten
Störungen sind ein selbstverständlicher und unvermeidbarer Bestandteil von Lernprozessen und von Veranstaltungen und sollten als solcher akzeptiert werden. Krisen gehören zum Leben, zu jeder Entwicklung, ja oft genug sind sie der entscheidende Anstoß für ernsthafte Anstrengungen zu grundlegenden Veränderungen und Verbesserungen. Doch keine Angst: Die meisten Krisen verlaufen relativ unproblematisch.
 
Positiv sehen
Jede Kritik zeugt, auch wenn sie unangemessen vorgetragen wird oder Sie persönlich verletzt, vom Engagement des TN. Wer kritisiert, beteiligt sich, hat die Veranstaltung noch nicht verloren gegeben. Mancher Kritiker ist besonders sensibel und reagiert wie ein Seismograf auf Entwicklungen vorab. Rechtzeitig und angemessen darauf einzugehen kann manchmal heißen, einer „Explosion“ in der ganzen Gruppe vorzubeugen.
 
Nicht persönlich nehmen
TN bringen in die Veranstaltung allerhand mit: nicht nur Wissen und Vorerfahrungen, sondern auch innere Konflikte, schlechte Erfahrungen mit Lernsituationen oder Dozenten, Ärger vom Arbeitsplatz, familiäre Belastungen usw. Nicht jede Aggression, die Sie trifft, gilt auch Ihnen! So lässt vielleicht ein TN, der gegen seinen Willen zur Fortbildung geschickt wurde, den Ärger über seinen Chef an Ihnen ab.
 
Gelassen wahrnehmen
Sie selbst tragen durch Ihre eigene Verfassung maßgeblich zum Gelingen einer Veranstaltung bei. Die Ursache für viele Missverständnisse und unglückliche Reaktionsweisen liegt in der Nervosität, Unsicherheit oder Gereiztheit des Dozenten. Denken Sie deswegen vor und während einer Veranstaltung auch an sich selbst: „Was kann ich tun, damit ich mich wohlfühle, damit ich in guter Verfassung ins Seminar gehe?“ Stress vermeiden z.B. durch eine rechtzeitige Anreise, Entspannung, Bewegung/Tanz, aufbauende Gedanken können Ihr Wohlbefinden und das Ihrer TN unterstützen. Aus einer gelassenen und entspannten Grundhaltung heraus gelingt es Ihnen leichter, auch schwierige Situationen zu meistern.

3. Störungen vorbeugen

Auch wenn wir dazu raten, die Unvermeidbarkeit und potenzielle Fruchtbarkeit von Krisen zu akzeptieren, so halten wir es doch für sinnvoll, zumindest unnötigen und unproduktiven Krisen vorzubeugen. Wir schlagen Ihnen folgende „Prophylaxen“ vor:
 
Klare Auftragsklärung
Versuchen Sie, bei der Auftragsklärung (s. Kap. 2, Planung) so viel wie möglich über Ihre TN in Erfahrung zu bringen. Eventuell haben Sie auch die Möglichkeit, mit einem oder zwei persönlich zu sprechen. Die Erwartungen, Ziele, Bedürfnisse und Bedarfe Ihrer TN sollten den Rahmen für die weitere Planung darstellen. Die Teilnehmeranalyse (Kap. 3, Teilnehmende) ist eine wichtige Vorbereitung und kann helfen, schwierigen Situationen in der Veranstaltung vorzubeugen.
Gut vorbereiten
Bei aller Skepsis gegenüber Planung (vgl. Kap. 2, Planung): Eine sorgfältige inhaltliche und methodische Vorbereitung kann den Erfolg einer Veranstaltung zwar nicht garantieren, aber doch wahrscheinlich machen.
Flexibel bleiben
Versteifen Sie sich nicht auf Ihre Planung, z.B. auf ein bestimmtes Vorgehen. Flexibel auf veränderte Situationen reagieren zu können, zeugt von didaktischer Professionalität. Didaktische Planungen sind „weiche“ Planungen.
Partnerschaftlich mit den TN umgehen
Das ist eine entscheidende Voraussetzung für ein angenehmes Lernklima. Darüber hinaus jedoch bietet Ihr Verhalten als Dozent den TN auch ein Modell für den Umgang miteinander. Wer als TN ein verständnisvolles, partnerschaftliches Verhalten erfährt, tut sich leichter, auch anderen so zu begegnen.
Offen interessiert sein
Klären Sie Ihr Aufgaben- und Rollenverständnis (vgl. Kap. 8, Lehrende).
Regeln vereinbaren
Seminare als soziale Situationen unterliegen immer bestimmten Regeln – ob sie nun ausgesprochen werden oder nicht. Es beugt Konflikten und Missverständnissen vor, Regeln explizit vorzustellen oder gemeinsam zu vereinbaren. Das betrifft sowohl das Gespräch im Seminar als auch die Organisation (Einsteigen, TZI/Themenzentrierte Interaktion, Gesprächsführung).
Aufmerksam beobachten
Eine offene Wahrnehmung hilft Ihnen, die Befindlichkeit Ihrer TN einzuschätzen und manche sich anbahnende Unstimmigkeit rechtzeitig zu erkennen. Aber Vorsicht: Nicht jeder mürrisch dreinblickende TN ist es auch, und mancher schließt die Augen nicht, weil er müde ist, sondern weil er aufmerksam zuhören möchte! Körpersprachliche Signale können selten eindeutig interpretiert werden (Gesprächsführung).
Kritik ermöglichen – Feedback einholen
Um die “Passung“ zwischen Erwartungen/Vorerfahrungen/Befindlichkeit/Lernen der TN und dem Vorgehen im Seminar sicherzustellen, ist ein beständiger Abgleich notwendig. Wenn TN erleben, dass die Veranstaltung “an ihnen vorbeiläuft“ ohne Möglichkeiten zum Eingreifen, stauen sich negative Emotionen wie z.B. Ärger auf. Es ist deswegen hilfreich, die TN um Rückmeldung zu bitten, sie zur Kritik zu ermuntern und dafür gezielte Angebote zu machen (Auswerten, Blitzlicht, Feedback, Meckerecke, Stimmungsbarometer).

4. Störungen bearbeiten

In kurzfristigen Veranstaltungen haben Sie oft nicht genug Zeit, einen Konflikt ausführlich anzusprechen und zu klären, denn das würde die Veranstaltung sprengen. Dennoch ist es ratsam, im Rahmen des Möglichen, d.h. eingeschränkt, auf Störungen einzugehen – zumindest gedanklich. In längerfristigen Veranstaltungen kann sich ein nicht ausgetragener Konflikt als fatal erweisen. Hier müssen Sie manches grundlegender aufgreifen.

Leitfragen

Übergreifende Regeln

Die unterschiedlichen Regeln für das Bearbeiten von Störungen (vgl. Bieger/Mügge 2005, Weidenmann 2011) haben viele Gemeinsamkeiten und lassen sich untereinander kombinieren.

Strategien für unterschiedliche Arten von Störungen

Es gibt fünf Arten von Störungen (s. die mit Kleinbuchstaben gekennzeichneten Beispiele des Vorspanns).
Störung (a):
Was tun, wenn Sie und andere TN sich durch einen TN gestört fühlen (Strategie: Störung anmelden)?
  1. Formulieren Sie Ihren Ärger in Ich-Aussagen (Feedback).
  2. Fragen Sie, ob er / sie Ihre Verärgerung verstehen kann.
  3. Haken Sie nach, wenn Sie sich noch nicht verstanden fühlen, ohne auf Angriffe zu antworten. Drängen Sie auf Verständnis für die eigenen Gefühle.
  4. Benennen Sie Ihren eigenen Anteil am Konflikt.
  5. Treffen Sie eine Vereinbarung, evtl. mit Ersatzvereinbarung.
  6. Überprüfen Sie die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit.
Störung (b):
Was tun, wenn sich TN gegenseitig gestört fühlen (Strategie: Störung moderieren)?
Arbeiten Sie mit dem TN, der eine Störung angemeldet hat. Moderieren Sie zunächst nur dieses Störungsgespräch für diesen TN. Schlagen Sie dabei Ich-Aussagen vor.
  1. Problem durch den „Gestörten“ formulieren (lassen).
  2. Seine Gefühle herausarbeiten (lassen).
    Verständnis des „Störers“ für diese Gefühle abfragen. Angriffe oder Verteidigungen unterbinden und darauf verweisen, dass die eigene Störung in einer 2. Runde angemeldet und bearbeitet werden kann.
  3. Anteile von beiden Seiten an der Störung erarbeiten (lassen).
  4. Ideen entwickeln und Vereinbarungen treffen, evtl. mit Ersatzvereinbarungen.
  5. Arbeitsfähigkeit der TN abfragen.
Störung (c):
Was tun, wenn Sie sich durch einen TN gestört fühlen? Siehe Störung (a)!
Störung (d):
Was tun, wenn sich ein TN durch Sie gestört fühlt (Strategie: Störung begegnen: HAIFA) (vgl. Bieger/Mügge 2005)?
  1. H-alt: durchatmen, nicht sofort zurückschlagen, zuhören.
  2. A-kzeptieren: Faktum der Betroffenheit des TN anerkennen.
  3. I-nteresse zeigen: rückfragen, mit eigenen Worten wiederholen oder den TN wiederholen lassen.
  4. F-ehler eingestehen: eigenen Anteil am Konflikt formulieren.
  5. A- ngebot machen oder Vereinbarung treffen.
Störung (e):
Was tun, wenn Sie sich durch die Mehrzahl der TN gestört fühlen? Siehe Störung (a)! Versuchen Sie dabei, möglichst viele TN zum Sprechen zu bringen.
Weitere Anregungen für Konfliktgespräche in Veranstaltungen finden Sie auf den Infokarten Auswerten, Rundgespräch, Moderationsmethode.

5. Zu guter Letzt

Vermeiden
sollten Sie es, bei Störungen
Diese Maßnahmen tragen nicht zu einer echten Konfliktlösung bei. Bestenfalls gelingt es Ihnen, sich für den Augenblick zu “retten“, wahrscheinlicher aber ist es, dass der Konflikt eskaliert. Was Sie nicht wirklich gelöst haben, kommt wie ein Bumerang zurück.
Der „Rauswurf“
kann nur das letzte Mittel sein, wenn andere Interventionen sich als wirkungslos erwiesen haben: „Es tut mir leid: Ich habe versucht, unseren Konflikt zu klären, aber das ist anscheinend nicht möglich. Ich glaube, wir können so nicht weiter zusammenarbeiten. Bitte verlassen Sie die Veranstaltung“ (wenn möglich unter vier Augen). Dieser Schritt wirkt bedrohlich auf die Gruppe, selbst wenn die übrigen Gruppenmitglieder der gleichen Meinung sind wie Sie. Sprechen Sie deshalb unbedingt mit den TN nach dem Ausschluss: „Wie geht es Ihnen denn mit dem Ausschluss von …?“ Übernehmen Sie aber die Verantwortung für Ihre Entscheidung und kommentieren Sie diese.
Wägen Sie sorgfältig ab, bevor Sie zu diesem Mittel greifen. Aber scheuen Sie sich nicht, es im Zweifelsfalle einzusetzen. Es ist paradox: Sich mit dem Extremfall anzufreunden verhilft bisweilen zu der nötigen Sicherheit, um auch „sanftere“ Interventionen erfolgreich einzusetzen.
Ein Gespräch unter sechs Augen
kann in manchen längerfristigen Kursen eine sinnvolle Hilfe sein. Ziehen Sie einen Dritten hinzu, um eine verfahrene Situation mit einem einzelnen Teilnehmer zu bereinigen.
Supervision oder kollegiale Praxisbegleitung
können eine wirksame Hilfe sein, um Sie beim Umgang mit schwierigen Situationen zu unterstützen und um Ihre Kompetenzen weiterzuentwickeln.
 

Literaturhinweise: Bieger/Mügge 2005; Bönsch/Zach 2006; Geißler 2005; Meier 2007; Weidenmann 2011

Dr. Balkes rät: „ ‚Wer Sieger bleibt, hat keinen Konflikt gelöst!’ (Weidenmann 2011).“

Autor: Ulrich Müller