Aktionsform
Ritual
Infobox
Lernziel |
Kopf, Herz, Hand |
Konkretisierung |
unmittelbar |
Aktivierung |
darbietend, interaktiv, erarbeitend |
Sozialform |
Plenum |
Lernphase |
Einsteigen, Erarbeiten, Integrieren, Auswerten |
Material/ Medien |
diverses Material (z.B. Kerzen, Tücher, Musik) |
Verwandte |
7 VIPs, Bewegung/Tanz |
Teilnehmerzahl |
bis 40 |
Zeit |
5-60 Min. |
Rituale sind ausdrucksstarke, symbolische Handlungen (Inszenierungen), die sozial-emotional entlasten und durch ihre klare Festlegung Sicherheit geben. Sie wirken wie ein Seil oder ein Geländer, an dem man sich festhalten kann, um sich durch schwierige Situationen/Übergänge (z.B. Abschied) zu wagen.
1. Einsatzmöglichkeiten
- als eigens gestaltete Aktionsform, um sozial-emotional schwierige Übergänge zu gestalten (z.B. Kursbeginn, Höhepunkte, Abschiede) (= Ritual als spezielle eigene Aktionsform)
- um mit Hilfe ausgewählter Aktionsformen, die wiederholt und damit ritualisiert werden, deutliche Zäsuren zwischen einzelnen Lernabschnitten zu markieren (z.B. jede Lerneinheit mit einer/m Bewegung/Tanz zu eröffnen oder mit einer meditativen Rückbesinnung auf einzelne Lernschritte zu beschließen) (= Ritual als Gesamtdramaturgie eines Seminars)
2. So wird’s gemacht
- Sie müssen sich überlegen: Welche psychischen Prozesse laufen in der Situation typischerweise ab und sollen gestaltet werden? I.d.R. werden es ambivalente Gefühle sein (z.B. Angst-Neugierde). Durch welche Etappen will ich die TN hindurchführen? I.d.R. können Sie sich an folgendes Strukturschema halten: (1) Trennungsphase, (2) Umwandlungsphase, (3) Angliederungsphase (s.u.).
- Entlasten Sie vom Zwang, alles in Worte fassen zu müssen. Symbolisieren ist das wichtigste Mittel des Rituals. Welche symbolischen Aktionen fallen Ihnen ein, um die inneren Prozesse zu versinnbildlichen (z.B. Sie können die innere Bereitschaft für ein Seminar durch einen Schritt auch äußerlich ausdrücken lassen)?
- Unterstützen Sie die Phasenstruktur (z.B. durch wechselnde Musik, räumliche Veränderung, klare und kurze Anweisungen).
- Sie müssen die Handlungen stark stilisieren und formalisieren (z.B. „Sie begrüßen sich nun mit Gesten, die für Sie passen z.B. einem Zwinkern, einem Nicken, …“). Die Begrenzung des Handlungsrahmens gibt Sicherheit und erleichtert die Kreativität, den verbleibenden Spielraum mit eigenen Ideen (z.B. Gesten) zu füllen.
- Wenn das Ritual sozial-emotional wirksam sein soll, muss die Handlung sehr bewusst und konzentriert sein. Betonen Sie die Bedeutung des jeweiligen Augenblicks und der jeweiligen Handlung (= Intensität) (z.B. „Schauen Sie sich nun im Vorübergehen an, wer noch mit Ihnen im Raum ist. Sie sehen sich so genau zum ersten Mal …“). Setzen Sie immer einen Fokus der Aufmerksamkeit (z.B. „Achten Sie jetzt nur auf ihre Füße beim Gehen …“) (= innere Sammlung).
- Wiederholen Sie Rituale oder Elemente (z.B. komplementäres Ritual für “Ankommen“ und “Schluss“) (= Sicherheit der Wiederholung).
Beispiel für die innere Struktur eines Rituals zum „Ankommen“:
(1) Trennungsphase: (Fokus: sich selbst wahrnehmen) aus dem Stress ankommen – den Alltagsgedanken nachhängen – sich langsam vom Alltag loslösen, (2) Umwandlungsphase: (Fokus: sich zur neuen Situation hinwenden) Erwartungen sammeln – Schritt ins Seminar – Musik, (3) Angliederungsphase: (Fokus: den Seminarraum wahrnehmen) erkunden – (Fokus: die anderen wahrnehmen) vorsichtig beäugen – mit Gesten begrüßen – zum Kreis zusammenkommen.
Beispiel für die äußere Anleitung eines Rituals zum “Ankommen“:
(1) „Ich lade Sie zu einer Übung ein, um langsam hier im Seminar anzukommen. Bitte stehen Sie auf, und gehen Sie im Raum umher. Achten sie dabei nur auf sich selbst und nicht auf die anderen … Wie ist Ihr Atem? Achten Sie jetzt nur auf Ihre Füße beim Gehen … Aus welcher Situation kommen Sie? Wie war meine Reise hierher? … Welche Gedanken aus Ihrem Alltag kreisen noch im Kopf? Die Anstrengungen, Belastungen können Sie an den Boden abgeben z.B. mit schwerem Schritt. Sie dürfen auch stöhnen, brummeln dabei … Suchen Sie sich bitte nun einen festen Stand. Schließen Sie die Augen. Welche unerledigten Dinge halten Sie vielleicht noch ‘draußen‘ fest? Wir können Sie hier nicht erledigen! Streifen Sie nun symbolisch diese Schnüre, die Sie hindern, hier zu sein, mit der linken Hand ab …“ (2) „Drehen Sie sich bitte um 180°. Stellen Sie sich nun vor Ihrem geistigen Auge vor, Sie stehen vor dem Eingang zum Seminar. Wie sieht dieses Tor aus? Welche Wünsche und Befürchtungen tauchen auf? … Wenn Sie innerlich bereit sind, den Schritt durch dieses imaginäre Tor zu wagen, dann machen Sie auch in der Tat einen Schritt nach vorn. Machen Sie das ganz bewusst! Unterstützen Sie sich, indem Sie laut oder leise sagen: ‘Hier bin ich!‘ (Musik)“ (3) „Gehen Sie nun wieder im Raum umher. Achten Sie bitte noch nicht auf die anderen, sondern konzentrieren Sie sich ganz auf den Raum. Erkunden Sie ihn mit Ihren Sinnen: sehen, hören, riechen, betasten … Wie gefällt er Ihnen? Haben Sie schon einen Platz gefunden, wo Sie sich wohlfühlen? … Schauen Sie sich nun im Vorbeigehen an, wer noch mit Ihnen hier ist … Sehen Sie sich ohne Wertung. Seien Sie neugierig, aber auch noch vorsichtig. Begrüßen Sie sich nun mit Gesten, die für Sie passen z.B. mit einem Augenzwinkern, einem Nicken, einer Verbeugung oder was Ihnen noch einfällt … Kommen sie nun langsam in einen Kreis …“
Beispiel für äußere Anleitung eines Rituals zum „Abschluss“:
(1) „Ich lade Sie nun zu einer letzten Übung ein, um langsam wieder in den Alltag zurückzukehren. Kommen Sie in einen Kreis. Nehmen Sie sich bitte bei den Händen … Schauen Sie sich alle, mit denen Sie dieses Seminar verbracht haben, noch einmal genau an. Wir sehen uns in dieser Runde so zum letzten Mal … Schauen Sie noch einmal Ihre unmittelbaren Nachbarn an … Lösen Sie langsam und sehr bewusst Ihre Hände … Verabschieden Sie sich mit einer Verbeugung zur Gemeinschaft gewandt … Konzentrieren Sie sich jetzt auf den Raum. Verabschieden Sie sich innerlich von Ihrem Seminarplatz.“ (2) „Drehen Sie sich bitte um 180°. Schließen sie die Augen. Sammeln Sie für sich noch einmal, was Sie von hier mitnehmen … Stellen sie sich nun vor Ihrem geistigen Auge vor, sie stehen vor dem Tor zum Alltag … Wie sieht dieses Tor aus? Welche Wünsche und Befürchtungen tauchen auf? … Wenn Sie innerlich bereit sind, den Schritt durch dieses imaginäre Tor in den Alltag zu wagen, dann machen Sie auch in der Tat einen Schritt nach vorn. Machen Sie das ganz bewusst! Unterstützen Sie sich, indem Sie laut oder leise sagen: ‘Hier bin ich!‘ (Abschiedsmusik setzt ein).“ (3) „Sie sehen nun vor Ihren Füßen die abgestreiften ‘Schnüre‘, die Sie mit dem Alltag verbunden haben. Knüpfen Sie diese nun wieder symbolisch fest … Gehen Sie nun in verschiedene Richtungen im Raum. Achten sie dabei nur auf sich selbst und nicht auf die anderen. Wir müssen jetzt wieder bei uns ankommen: Wie ist Ihr Atem? Achten Sie jetzt nur auf Ihre Füße beim Gehen … Welche Gedanken aus Ihrem Alltag kommen wieder? Wie wird Ihre Reise sein? In welche Situation kehren Sie zurück? Gehen Sie bitte im Raum herum, solange die Abschiedsmusik noch läuft …“
In den Beispielen sind nur die unmittelbaren Ränder der sozialen Übergänge in und aus dem Seminar als Ritual gestaltet. Über die Breite und die Facetten dieser Phasen erfahren Sie mehr bei
Einsteigen und
Auswerten.
3. Didaktisch-methodische Hinweise
Im Seminar-Alltag gibt es meist nur informelle und halbherzige Rituale: das Abschiedsessen, gemeinsames Aufräumen, ein hastiger Adressentausch u.Ä. Bewusste Rituale in unserem Sinne dagegen sind eher selten. Wir meinen: Bildung braucht deutliche Rituale. Für den Beziehungsprozess: Sie werden TN einer neuen Gruppe und verlassen sie wieder. Für das Erleben des persönlichen Veränderungsprozesses: Sie nehmen Neues mit und müssen dafür Altes aufgeben. Zwei Regeln sind uns hier wichtig: (1) Je länger und dichter die Veranstaltung ist, umso länger und intensiver müssen Sie diese Übergänge, Veränderungen und Höhepunkte gestalten. (2) Je ungewohnter Rituale für Ihre TN-Gruppe sind, umso kürzer und alltagsnäher müssen Sie Rituale zunächst anlegen (z.B. zunächst nur ein bewusstes Händeschütteln oder die formalisierte Verbeugung voreinander ausprobieren).
Funktionen von Ritualen
- Rituale stiften Gemeinschaft und verteilen klare Rollen (soziale Strukturierung): Wir definieren hier Ritual i.e.S. als ein öffentliches gemeinschaftliches Geschehen und trennen diesen von einem Ritualbegriff i.w.S., der auch die privaten Gewohnheiten umfasst (z.B. bestimmter Ablauf bei Ihrer morgendlichen Toilette). Die Besonderheiten von Ritual i.e.S.: (1) Es verteilt klare Rollen bzw. gestaltet die Rollenänderung/Statuswechsel (z.B. Gebender – Nehmender, Alltagsmensch – TN). (2) Es verbindet Menschen zu einer Gemeinschaft über die rituelle Handlung (z.B. Begrüßungsgesten). (3) Es lässt unterschiedliche Grade (z.B. Hauptperson – Mitakteur) zu. Jeder kann auch seine persönliche Intensität (z.B. viel oder wenig Emotion) der Beteiligung bestimmen und variieren. Sicher: Rituale können missbraucht werden, um Hierarchie aufzurichten und jemanden klein zu machen. Sie können jedoch auch die eigene Verantwortung betonen und sichtbar machen (z.B. „Schritt ins Seminar“).
- Rituale geben unterschiedlichen Gefühlen Raum, dosieren und ordnen sie (psychische Strukturierung): Sie gestalten den sinnlichen Ausdruck und wirken stressmindernd. Psychologische Untersuchungen belegen die heilsame Wirkung von Ritualen (z.B. bei Verlusten). Man kann sich über Rituale gesund trauern. Nicht jedes Ritual ist in diesem Sinne hilfreich. Wir legen hier deshalb wert auf die Unterscheidung zwischen lebensfeindlichen Ritualen (z.B. „stille Trauer“) und lebensfördernden. Übergänge lösen (alte) Trennungsängste/Bindungsängste und erzeugen z.T. starke Abwehr: zum einen Gefühlsblockaden (z.B. “cooler Abgang“) zum anderen formloses Zerfließen (z.B. agitierendes Wegplappern, „sumpfige“ Traurigkeit). Lebensfördernde Rituale gehen immer den Weg zwischen diesen beiden Abwehrextremen: (1) Sie geben Gefühlen kreativen Raum (z.B. Gesten finden lassen) und begrenzen zugleich (z.B. „Begrüßen Sie sich nur mit Gesten, ohne zu reden!“). (2) Sie weisen verschiedenen Gefühlen einen Platz zu und ordnen so die Ambivalenzen (z.B. Platz für Trauer um die Seminargruppe – Vorfreude auf zu Hause). (3) Sie benutzen den symbolischen und leiblichen Ausdruck (z.B. Körperhaltung, Stimme, Geste) und nicht nur die Sprache. Alle Sinne werden angeregt und können dadurch – wie das Wort bereits verrät – Sinn stiften. Es gibt immer einen traurigen Blick zurück und einen hoffenden nach vorn. Psychisches Erleben bekommt somit eine Gestalt und Richtung. Rituale formen sozusagen wohltuend über die äußere Handlung das innere Erleben.
- Rituale gliedern den Ablauf (zeitliche Strukturierung): Veränderungen (z.B. Abschied) brauchen Zeit und Struktur. Rituale gestalten die Übergänge weich in kleinen Schritten.
4. Vorteile/Chancen – Nachteile/Probleme
Vorteile/Chancen:
- kann große sozial-emotionale Wirkung besitzen
Literaturhinweise: Achterberg 1993; Ariès 2005; Canacakis 2006; *Geißler 2005a, b, 2010a, b; Gennep 1999; Kämpfer 1984; Kast 2008; *Lander/Zohner 1992; Steffensky 1994; Stender 1994
*Anregungen für Rituale in der EB
Dr. Balkes rät: „Sie können nicht einfach alte sinnentleerte Rituale exhumieren oder exotische exportieren. Verwechseln Sie das Seminar nicht mit einem Indianerstamm. Es kommt darauf an, zeitgemäßes brauchbares Brauchtum für den (pädagogischen) Alltag einzuführen.“
Autor: Martin Alsheimer