Seminardesigns und Trainingspläne sind für gewöhnlich sehr harmonisch gestaltet. Zu Beginn werden die Erwartungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer abgefragt, es folgen lernerorientierte Seminarmethoden und am Ende werden die wichtigsten Ergebnisse im Ergebnisprotokoll zusammengefasst.
Mit meinem Kollegen an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Helmut Däuble, philosophiere ich sehr gerne und überaus satirisch diese “Heile Welt der Unterrichts- und Seminardidaktik”. In einem aktuellen Fachartikel plädiert Helmut Däuble jetzt für provizierende Seminarmethodik. Beim gut gemeinten Versuch, nicht nur fachliche Inhalte sondern auch wichtige Botschaften und Werte zu vermitteln, verfallen Lehrerinnen und Lehrer sehr schnell in eine fatale Belehrungskultur: “Tritt ein Lehrender mit einer so spezifischen Zielvorgabe vor seine Klasse und will diese in bester Absicht zu solcherart Nachhaltigkeit erzielen, […] dann bewegt er sich sehr schnell in Richtung Indoktrination. […] Lernende haben zu allen Zeiten häufig auf solche ‘Missionierungsversuche’ mit genau gegenteiligen Verhaltenssweisen reagiert”.
In der Tat müssen wir auch für Weiterbildung und Training fragen: Gelingt durch E-Learning-Programme zum Compliance eine tatsächlich regelkonforme Verhaltensänderung oder führen sie nicht eher zu neuen Vermeidungsstrategien? Bewirken Entspannungs-Angebote und Kollegensport ein stärkes Gesundheitsbewusstsein im Arbeitsalltag oder verstärken sie nicht eher den Drang zu noch mehr Einsatz, Ehrgeiz und Leistung?
Helmut Däuble folgert daraus die Notwendigkeit, in Unterricht und Seminaren weit mehr als üblich mit einer bewussten Provokation der Lernenden zu arbeiten:
- Inhalte bis zum Irrationalen überzeichnen
- absurde Arbeitsaufträge stellen
- zu offensichtlichem Fehlverhalten animieren
- Lernende verunsichern
- sich selbst in Zweifel stellen
- usw.
Im genannten Beitrag zerschneidet eine Lehrerin zum Einstieg in das Thema “Kleiderspenden” ihr Lieblings-T-Shirt vor den Augen der Schüler mit einer Schere. Das didaktische Kalkül dahinter: Erst dadurch erhalten die Lernenden einen Impuls, der über eine Irritation (“Sehe ich recht?”) die Alltagswahrnehmung aufdeckt. Für die Lernenden eröffnen sich Perspektiven, aus der heraus zumindest ein eigenes Nachdenken, wenn nicht sogar eine eigene Initiative bewirken kann. Wie der Lehrer das Thema anschließend weiter bearbeiten könnte, zeigt im Beitrag eine ausführliche Beschreibung mit unterrichtspraktischen Methoden und Projektideen.
Sie mögen jetzt erwidern, eine Beschreibung für den Schulunterricht wäre auf die Situation in der Erwachsenenbildung oder gar für Trainings in der betrieblichen Bildung nicht übertragbar? Dann freue ich mich, dass die Provokation meines Beitrags bereits eben diesen Denkprozess bei Ihnen ausgelöst hat und gutmöglich zu weiteren Lernprozessen führt!
Quellenhinweis: Däuble, Helmut (2014): “Zerschneid ́dein Shirt in tausend Fetzen!” Problemorientierung, Kontroversität und Offenheit in der politischen Urteilsbildung: Das Beispiel “Ausgediente Klamotten – Fluch oder Segen für Afrika?”. In: Unterrichtspraxis. Beilage zu “Bildung und Wissenschaft” der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Baden-Württemberg. Online verfügbar auf der Homepage der GEW.
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